
Orakel Paul – ein gewöhnlicher Oktopus im Sea Life Aquarium Oberhausen – wurde im Sommer 2010 weltberühmt als „Fußball-Orakel“. In jenem Jahr sagte die Krake Paul bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft sowie das WM-Finale korrekt voraus. Mit seinen verblüffend treffsicheren „Prognosen“ begeisterte Orakel Paul Millionen Fußballfans und Medien weltweit.
Paul wurde am 26. Januar 2008 im Atlantik vor der englischen Küste bei Weymouth (Grafschaft Dorset) geboren. Im Alter von wenigen Monaten kam der Gewöhnliche Krake zunächst ins Sea Life Centre Weymouth. Schließlich gelanget er in das Großaquarium des Sea Life Oberhausen in Nordrhein-Westfalen. Dort erhielt er den schlichten Namen „Paul“ – inspiriert vom Kindergedicht Der Tintenfisch Paul Oktopus.
Die ausgefallene Idee, den Kraken als tierisches Orakel für Fußballspiele einzusetzen, entstand im Vorfeld der EM 2008 als PR-Aktion. Eine Hamburger Agentur konzipierte Pauls Orakel-Auftritte und wurde später sogar mit einem PR-Preis ausgezeichnet. Was als Marketing-Gag begann, entwickelte sich rasch zu einer kleinen Sensation, denn Pauls Tipps sollten erstaunlich oft richtig liegen.
Erstmals kam „Orakel-Krake“ Paul bei der Fußball-Europameisterschaft 2008 zum Einsatz. Die Vorgehensweise war: In Pauls Becken wurden vor einer Partie zwei transparente Futterboxen mit den Flaggen der gegnerischen Teams platziert. In jeder Box lockte eine Miesmuschel als Leckerbissen. Pauls „Tipp“ galt der Box, die der Oktopus zuerst ansteuerte und öffnete. Bei der EM 2008 sagte Paul auf diese Weise sämtliche deutschen Spiele voraus – mit vier richtigen und zwei falschen Tipps. So irrte er etwa beim deutschen Finale gegen Spanien, das er zugunsten Deutschlands „vorhersagte“, während tatsächlich Spanien Europameister wurde.
Seinen Legendenstatus erlangte Paul dann bei der Weltmeisterschaft 2010. Während des Turniers in Südafrika orakelte er sich in die Herzen der Fans. Paul tippte alle sieben deutschen WM-Spiele richtig, darunter auch Niederlagen wie das 0:1 im Halbfinale gegen Spanien. Darüber hinaus prognostizierte er sogar den Sieger des Endspiels Spanien gegen Niederlande korrekt. Insgesamt kam Paul auf 12 richtige Resultate bei 14 Versuchen – eine Quote, die ihm den Ruf des unfehlbaren Fußball-Orakels einbrachte. Unmittelbar nach der WM 2010 „trat Orakel Paul zurück“ und wurde nicht mehr zu weiteren Tipps herangezogen.
Mit jedem richtigen Tipp steigerte sich Pauls Bekanntheit und löste einen globalen Medienhype aus. Während der WM 2010 berichteten zunächst nationale, dann internationale Medien über den „hellseherischen“ Kraken. Nachdem Paul auch den deutschen Viertelfinalsieg über Argentinien korrekt vorhergesagt hatte, griffen renommierte Auslandsmedien wie The Guardian und sogar der Weltfußballverband FIFA Pauls Orakel-Künste auf. Die englischsprachige Presse nannte ihn den “psychic octopus” – also Kraken mit übersinnlichen Fähigkeiten. Frankreichs Le Monde staunte über die „praktisch unschlagbaren Voraussagen“ des Oktopus.
Spätestens zum Halbfinale schalteten Fernsehsender weltweit live nach Oberhausen, um Paul beim Tippen zuzusehen. Für seinen finalen WM-Tipp – den Sieg Spaniens im Endspiel – reiste ein Tross von über 200 Journalisten aus aller Welt an. Vor Pauls Aquarium drängten sich Kamerateams aus Europa, Amerika und Asien, um jede Bewegung der Krake einzufangen. Bilder des orakelnden Oktopus gingen via TV und Internet um den Globus. So wurde Paul die Krake zum wohl berühmtesten Tier-Orakel der Sportgeschichte.
Parallel zu Pauls Ruhm schossen auch Nachahmer aus dem Boden. In Spanien präsentierte ein anderes Aquarium prompt den Kraken „Pepe“ als eigenes WM-Orakel, in Singapur sagte Papagei „Mani“ Spiele voraus. Überall suchte man plötzlich das nächste tierische Orakel – doch keiner erreichte Pauls Starruhm. Sein Name wurde zum Synonym für treffsichere Tipps. So scherzte man etwa, ein fiktiver „Kraken-Orakel“ würde Wirtschaftsentwicklungen zuverlässiger vorhersagen als so mancher Experte. Paul war auf dem Höhepunkt ein Popkultur-Phänomen.
Trotz aller Begeisterung blieb Kritik am Orakel Paul nicht aus. Wissenschaftler betonten, dass Pauls Trefferquote statistisch betrachtet kein Wunder sei. Unter tausenden Tippversuchen von Tieren würde rein zufällig irgendwann ein „Orakel“ eine perfekte Serie hinlegen. Der französische Mathematiker Étienne Roquain rechnete vor, dass die Wahrscheinlichkeit für Pauls acht richtige WM-Tipps etwa 0,4 % betrug. Es war also unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Anders gesagt: Pauls Erfolg könnte schlicht Glück gewesen sein. Einige Medien ordneten den Kraken daher als klassisches Sommerloch-Phänomen ein – eine kuriose Story, die in nachrichtenarmen Zeiten groß gemacht wurde.
Auch vonseiten der Öffentlichkeit gab es skeptische oder missbilligende Stimmen. Vertreter der Tierschutzorganisation PETA kritisierten die „Zurschaustellung“ des Kraken und forderten, Paul in die Freiheit zu entlassen. Dies lehnte das Sea Life jedoch ab, da ein älterer, in Gefangenschaft aufgewachsener Oktopus in freier Wildbahn kaum überlebensfähig sei. Aus verschiedenen Ländern kamen teils skurrile Reaktionen: Verärgerte argentinische Fans schlugen nach ihrem WM-Aus gegen Deutschland scherzhaft Rezepte vor, wie man Paul als Pulpo à la Gallega zubereiten könne. Spaniens Premierminister hingegen versprach augenzwinkernd Polizeischutz für den „prophetischen“ Oktopus, während ein niederländisches Boulevardblatt kurzzeitig eine Falschmeldung über einen pro-holländischen Tipp Pauls verbreitete.
Für Aufsehen sorgte sogar eine politische Einmischung: Irans damaliger Präsident Mahmud Ahmadinedschad wetterte 2010 in einer Rede gegen Paul, der als Symbol westlicher Dekadenz und Aberglauben bezeichnet wurde. Solche kontroversen Reaktionen zeigen, wie sehr das Phänomen Paul die Gemüter bewegte – von humorvollem Kult bis zu ernster Kritik an Aberglauben und Tierhaltung.
Nach dem WM-Sommer 2010 flaute der Hype ab, doch Paul blieb in Erinnerung. Am 26. Oktober 2010 starb die berühmte Krake eines natürlichen Todes im Aquarium Oberhausen. Das Sea Life richtete ein Kondolenzbuch für Besucher ein und kündigte direkt ein Denkmal zu Pauls Ehren an. Tatsächlich wurde im Januar 2011 im Aquarium eine Gedenkstatue enthüllt: Ein überdimensionaler Fußball, auf dem ein bronzefarbener Octopus thront – in seinem Inneren ruht Pauls Asche in einer goldenen Urne. Dieses skurrile Denkmal zog jahrelang Fans an und hält die Erinnerung an den Kult-Kraken lebendig.
Paul selbst erlangte postum weitere Ehrungen. So benannte ein italienisches Küstendorf auf Elba eine Straße nach ihm (Via Polpo Paul), und in China kam sogar eine Krimi-Komödie mit dem Titel “Tötet Krake Paul” in die Kinos. Bei der WM 2014 wurde Paul in gleich zwei Google-Doodles mit Heiligenschein verewigt. Im Sea Life Oberhausen verzichtete man derweil bewusst auf einen neuen Orakel-Kraken – Pauls Erfolg blieb einmalig, einen Nachfolger Paul II. nutzte man nur kurz als Ausstellungsobjekt. Seine Urne befindet sich heute im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.
Auch wenn viele Nachahmer in Pauls Fußstapfen traten – kein Tierorakel erreichte jemals seine Popularität. Ob Elefant Citta, Keiler Funtik, Kuh Yvonne oder die unzähligen weiteren WM- und EM-Orakel: Sie alle profitierten vom Wegbereiter Paul und sorgten für Unterhaltung, blieben aber kuriose Randnotizen. Der Ur-Vater aller Fußball-Orakel hat damit ein einmaliges Vermächtnis: Paul die Krakenlegende steht bis heute sinnbildlich für überraschende Glückstreffer, die selbst Experten ins Staunen versetzen. Und so bleibt Orakel Paul vielen Fußballfreunden als sympathischer Achtarmiger in Erinnerung, der 2010 für ein Sommermärchen der etwas anderen Art sorgte.