Haben Schildkröten Zähne? Entdeckung wirft ein anderes Licht auf die Evolution

Schildkröten besitzen heute keine Zähne, sondern nutzen stattdessen harte Kieferleisten. Doch das war nicht immer so.
Foto: Ludvig Hedenborg

Die Frage „Haben Schildkröten Zähne?“ scheint auf den ersten Blick leicht zu beantworten. Wer schon einmal eine Schildkröte beim Fressen beobachtet hat, weiß: Die Tiere besitzen heute keine Zähne, sondern nutzen stattdessen harte Kieferleisten. Doch eine spektakuläre Entdeckung aus China zeigt: Das war nicht immer so. Ein internationales Forscherteam hat Zahnreste bei einer ausgestorbenen Schildkrötenart gefunden – und verändert damit unser Bild der Evolution grundlegend.

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Spektakulärer Fund in der chinesischen Wüste

Die Entdeckung gelang in der Ausgrabungsstätte Wucaiwan, gelegen in der Wüstenprovinz Xinjiang im Westen Chinas. Die dort entdeckte Schildkrötenart trägt den Namen Sichuanchelys palatodentata, was übersetzt etwa „Sichuan-Schildkröte mit bezahntem Gaumen“ bedeutet. Sie lebte vor rund 160 Millionen Jahren, also im späten Jura. Die fossilen Überreste belegen erstmals, dass Schildkröten viel länger Zähne hatten als bisher vermutet wurde.

Besonders auffällig: Die Zähne befanden sich nicht am Rand der Kiefer, wie es bei vielen anderen Reptilienarten der Fall ist, sondern tief im Gaumenbereich. Zwar war das Gebiss bereits reduziert, doch die Zahnstruktur ist klar erkennbar. Bis zu diesem Fund galt eine 30 Millionen Jahre ältere Art als letzte bekannte bezahnte Schildkröte. Die Entdeckung rückt also die Evolution der Schildkröten ein gutes Stück näher an die Gegenwart heran, als bislang angenommen.

Neue Einblicke in die Verwandtschaft früher Schildkröten

Die Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift BMC Evolutionary Biology, bringt nicht nur neue Erkenntnisse zur Anatomie früher Schildkröten, sondern auch zu ihrer Abstammung. Beteiligt waren Forscher aus Deutschland, der Schweiz, China und den USA. Darunter Dr. Márton Rabi von der Universität Tübingen, Dr. Walter Joyce von der Universität Freiburg (Schweiz), Dr. Xing Xu aus China sowie Dr. James Clark von der George Washington University.

Besonders spannend: Sichuanchelys palatodentata gilt als engste bekannte Verwandte von Mongolochelys efremovi, einer Landschildkröte, die rund 100 Millionen Jahre später in Zentralasien lebte. Diese Verbindung weist auf eine lange und geografisch stabile Abstammungslinie hin, die sich offenbar bis vor 70 Millionen Jahren in Asien hielt. Die Entdeckung bringt also nicht nur anatomische Erkenntnisse, sondern öffnet auch neue Perspektiven auf die Verbreitung und Entwicklung früher Schildkrötenarten.

Biogeografische Bedeutung der Funde

Zur Zeit des Oberjura zerbrach der Superkontinent Pangäa – ein geologisches Ereignis mit enormen Folgen für die Tierwelt. Die geografische Isolation führte dazu, dass sich auf den entstehenden Kontinenten jeweils eigene Schildkrötenarten entwickelten. Der Fundort Wucaiwan wird damit zu einer bedeutenden Quelle für Erkenntnisse über die biogeografische Entwicklung.

Heute weiß man, dass Schildkröten in ihrer Frühgeschichte eine größere Vielfalt an Gebissformen aufwiesen, obwohl alle heutigen Arten zahnlos sind. Diese Evolution verlief offenbar langsamer und komplexer als bislang angenommen. Die Verbindung zwischen fossilen Fundorten und der heutigen Verbreitung von Schildkrötenarten ist damit ein neuer Forschungsansatz, der künftig noch mehr Erkenntnisse bringen könnte.

Warum haben Schildkröten heute keine Zähne mehr?

Die Antwort auf die Frage, warum heutige Schildkröten keine Zähne mehr besitzen, liegt vermutlich in der Evolution ihres Hornschnabels. Dieser hat sich im Laufe der Zeit als effektiveres Werkzeug zur Nahrungsaufnahme etabliert. Ähnlich wie bei den Vögeln – die ebenfalls keine Zähne mehr haben, aber von zahntragenden Dinosauriern abstammen – wurde das Gebiss im Laufe der Evolution durch leichtere, flexiblere Strukturen ersetzt.

Ein gutes Beispiel für diesen Wandel ist Archaeopteryx, ein früher Vogel, der vor etwa 150 Millionen Jahren lebte und noch Zähne besaß. Im Gegensatz dazu sind heutige Vögel zahnlos, nutzen aber ähnlich wie Schildkröten spezialisierte Hornschnäbel. Diese ermöglichen das Zerschneiden oder Aufknacken selbst harter Nahrung wie Muscheln – besonders bei Meeresschildkröten ein klarer Vorteil. Die Hornstrukturen sind leichter, robuster und offenbar evolutionär erfolgreicher als ein herkömmliches Reptiliengebiss.

Schildkröten haben heute keine Zähne mehr: Wie es es bei anderen Reptilienarten?

Im Vergleich zu anderen Reptilien zeigt sich ein interessantes Muster. Krokodile beispielsweise besitzen gleichförmige, kegelförmige Zähne, die meist keine Spezialisierung aufweisen. Sie reißen ihre Beute oder verschlingen sie in großen Stücken. Säugetiere hingegen besitzen hochspezialisierte Zahnformen – etwa Schneide-, Mahl- oder Reißzähne – was ihnen eine differenzierte Nahrungsverarbeitung ermöglicht.

Schildkröten nahmen innerhalb der Reptilien eine Sonderrolle ein. Ihr Übergang von bezahnten zu zahnlosen Kiefern zeigt, dass sich auch Reptilien mit ursprünglichem Gebiss evolutionär verändern konnten, wenn es ein Vorteil für ihre Überlebensstrategie war. Die Hornschnäbel ermöglichen eine größere Bandbreite an Ernährungstypen, von Pflanzen über Insekten bis hin zu Meeresfrüchten.

Ein Puzzlestück in der Evolution der Schildkröten

Die neue Studie zur bezahnten Schildkröte aus dem Jura liefert ein wichtiges Puzzlestück im Verständnis der Schildkrötenevolution. Die Antwort auf die Frage „Haben Schildkröten Zähne?“ lautet also: Heute nicht mehr – aber sie hatten welche, und zwar deutlich länger als bisher gedacht. Die Funde aus China zeigen, dass die Entwicklung der Schildkröten nicht gradlinig verlief, sondern von anatomischen Übergangsformen geprägt war.

Gleichzeitig unterstreicht die Studie, wie wichtig es ist, fossile Fundorte neu zu bewerten und in einen größeren biogeografischen Kontext zu stellen. Denn nur durch solche Funde lässt sich nachvollziehen, wie sich heute so spezialisierte Tierarten wie Schildkröten über Millionen von Jahren angepasst und verändert haben.

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